Nicht nur Suppenküche: Die Tafel Darmstadt

Die meisten Deutschen, vor allem Stadtbewohner, haben eine ungefähre Vorstellung von der Arbeit, die die 947 Tafeln Deutschlands tagtäglich ausüben. „Die nehmen abgelaufene Lebensmittel von Supermärkten und kochen damit für die Armen“, so lautet die vereinfachte Auffassung vieler. Stimmt das überhaupt? Um das herauszufinden, waren wir bei der Tafel Darmstadt.

Aus aktuellem Anlass

Die Recherche zu diesem Artikel fand im Dezember 2019 statt – veröffentlicht wird er erst jetzt, im März 2020, während die
Corona-Krise in vollem Gange ist. Die Darmstädter Tafel ist eine der Tafeln in Deutschland, die nach wie vor geöffnet haben.
Allerdings ist ihr Angebot derzeit eingeschränkt: Der Gastraum bleibt bis auf Weiteres geschlossen und es gibt kein Frühstück, Kaffee, Kuchen oder Mittagessen. Die Lebensmittelausgabe jedoch bleibt geöffnet! Neuanmeldungen sind momentan nicht möglich.
Da viele ehrenamtliche Helfer der Tafeln zur Risikogruppe gehören, ist auch die Tafel Darmstadt in diesen Zeiten besonders dankbar für freiwillige Helfer. Diese können sich gerne telefonisch melden – die Kontaktinformationen findet ihr unter diesem Artikel.

Was machen die Tafeln?

Ja, einige der Tafeln verfügen über eigene Küchen und bieten, vorrangig mittags, warme Mahlzeiten an. Das ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Die Tafeln geben Lebensmittel aus, teilweise für einen geringen, symbolischen Preis, die, laut eigenen Angaben, „Lagerbestände, Retouren, Produkte mit nahendem Mindesthaltbarkeitsdatum, Überproduktionen, Produkte mit kleinen Schönheitsfehlern etc.“ sind, jedoch nicht abgelaufen. Diese sammeln sie bei Supermärkten, Händlern und von Veranstaltungen ein. Außerdem beliefern sie mit bundesweit etwa 2350 Fahrzeugen verschiedene soziale Einrichtungen wie Frauenhäuser, Obdachlosenheime und Jugendheime mit Lebensmitteln, die diese wiederum zu Mahlzeiten verarbeiten.

Die Darmstädter Tafel in der Bismarckstraße verfügt über eine eigene Küche, welche vor allem in der kalten Jahreszeit einen großen Vorteil darstellt, so auch für die 160 Gäste am 18.12.2019, an dem wir die Tafel Darmstadt anlässlich ihrer Weihnachtsfeier in der gegenüberliegenden St. Fidelis Kirche besuchen durften. Sie dürfen sich auf einen Vorspeisesalat freuen, gefolgt von Gans, Knödeln und Rotkraut, serviert durch knapp 15 Helfer der Tafel. Der Saal ist geschmückt und das Essen duftet bereits, kurz vor 12 Uhr. Fast so schön wie bei Mama an Weihnachten, nur der Anlass ist weniger erfreulich. Alle Anwesenden sind regelmäßig Kunden bei der Tafel und verfügen über einen Kaufausweis, der sie als bedürftig bescheinigt. Unter ihnen sind Arbeitslose, Geringverdiener und vor allem Rentner.

Wer geht zur Tafel Darmstadt?

Diese Beobachtung entspricht auch dem deutschlandweiten Trend. Während etwa ein Drittel der 1,65 Millionen Bedürftigen, die Hilfeleistungen von der Tafel erhalten, Kinder oder Jugendliche sind, sind die anderen zwei Drittel vorrangig durch Rentner besetzt, Tendenz weiter steigend. Für viele dieser Rentner bieten die Tafeln neben der Grundversorgung auch einen sozialen Aspekt an, weiß Andreas Backert, Pastoralreferent der St. Fidelis Kirche, die häufig mit der Tafel Darmstadt zusammenarbeitet und ihre Räumlichkeiten für die Weihnachtsfeier zur Verfügung stellt. Armut vereinsame die Menschen und Gelegenheiten wie das Zusammenkommen bei der Tafel sei für viele die einzige Form von sozialer Teilnahme im Alter, so Backert. Pfarrer Johannes Gans fügt nach dem Essen hinzu: „Wir müssen teilen, was wir haben. Das klingt immer so fromm, aber wenn es konkret wird, macht´s richtig Spaß.“ Danach nimmt er Platz am Klavier, um musikalische Unterstützung zu liefern, als der erste Vorsitzende der Darmstädter Tafel, Gert Wentrup, Weihnachtslieder anstimmt.

Ein Trend, den der Dachverband der Deutschen Tafeln mit Zufriedenheit beobachten kann, ergibt sich aus der Verbreitung der Tafeln in Deutschland. Die meisten größeren Städte haben mindestens eine zentrale Niederlassung, und breiten sich in Form von Ausgabestellen in die umliegenden Stadtteile, Vororte und Gemeinden aus. Durch die Dichte des Netzes beliefern mittlerweile 80 Prozent der Tafeln, die Lebensmittelüberschüsse feststellen, ihre Nachbartafeln. Etwa 60 Prozent aller deutschen Tafeln sind Projekte in Trägerschaft von wohltätigen Organisationen wie Diakonie oder Caritas, unter anderen. Die restlichen 40 Prozent sind eingetragene Vereine. Ein Bereich, in dem die Tafeln Zulauf gebrauchen könnten, sind ehrenamtliche Helfer in jungem Alter. 90 Prozent aller aktiven Helfer sind ehrenamtlich unterwegs, davon sind 68 Prozent Senioren und 20 Prozent selbst bedürftig. Nur 2 Prozent aller Ehrenamtlichen sind unter 30 Jahren alt.

Zum Ende der Feierlichkeiten in der Tafel Darmstadt gibt es für jeden Gast eine frühzeitige Bescherung: Der Kosmetikkonzern Coty stellte Geschenke in verschiedensten Größen, mit der Beschriftung „Mann“ oder „Frau“. Die Stern Apotheke kümmerte sich um Geschenke für die Kinder. Weitere Sponsoren der Feier waren der Personalspezialist Adesta, der die Gänsekeulen bereitgestellt hat und mit zwei Helferinnen vor Ort vertreten war, der Lebensmittelkonzern Döhler, der die auf den Tischen verteilte Kekse zur Verfügung stellte und der Griesheimer Blumenhändler Kurt Manegold, der die Tischgestecke vorbereitet hatte. Manche Gäste zeigen sich etwas ungeduldig bei der Geschenkausgabe, was zu ein wenig Chaos führt, letztendlich gibt es jedoch schöne Momente zu beobachten, in denen die geöffneten Geschenke bewundert und herumgezeigt werden. Einige nehmen ihre Geschenke ungeöffnet mit, vielleicht, um sie knapp eine Woche später an Heiligabend zu öffnen.

Die Tafeln selbst betonen häufig, dass sie keine Vollversorgung bieten können, sondern nur eine Unterstützung für die, die diese Hilfe gebrauchen können. Da sie nur Waren abholen, die sonst weggeworfen werden, finden einige Lebensmittel fast nie den Weg in die Ausgabestellen. Reis, Kartoffeln und Nudeln sind beispielweise so einfach und langfristig aufzubewahren, dass die Händler sie kaum abgeben. Unter anderem deswegen kann die örtliche Tafel den Gang in den Supermarkt nicht ersetzen, aber im Idealfall deutlich günstiger ausfallen lassen.

Was sagen Kritiker?

An diesem Punkt setzen viele Kritiker der Tafeln an, so auch Prof. Dr. Stefan Selke, Mitbegründer des „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“. In einem Gespräch mit der Spreezeitung kritisierte er vor allem die unreflektierte Ansichtsweise gegenüber den Tafeln, wofür auch die Medien sorgen würden. Der vermeintliche Erfolg der Tafeln bietet sich so immer wieder als Geschichte über „Helden des Alltags“ an, so Selke. Ganz im Gegenteil seien Tafeln „weder sozial noch nachhaltig“, da sie den Politikern aus der Verantwortung helfen und ihnen den Druck zu Handeln abnehmen würden. Während Selke zu Beginn gleich klarstellt, dass die Tafel selbst keine Schuld treffe, so kritisiert er doch die tafelinterne Bildung von „Überzeugungsgemeinschaften“, in denen sich Gleichdenkende immer wieder bestätigen, jedoch selten hinterfragen.

Ganz so einstimmig fallen die Stimmen der Tafelvertreter jedoch nicht aus. Während beispielsweise Jochen Brühl, der Vorsitzende des Dachvereins der Deutschen Tafeln, staatliche Unterstützung, vor allem in der Logistik, fordert, fürchten andere Tafelvertreter, dass genau diese Unterstützung zum Verlust der Unabhängigkeit führen kann. Im Fall der Selbstbeweihräucherung scheint Selke nicht differenziert zu kritisieren: Während die Tafel oft über ihre individuellen Erfolge berichtet, sind die meisten Vertreter sich klar bewusst, dass die Notwendigkeit ihrer Existenz kein Grund zur Freude ist. Wolfgang Schwenk, 1. Vorsitzender der Tafel Celle fasste diese Entwicklung in einem Beitrag im ZDF zusammen: „Als wir vor 25 Jahren anfingen, da haben wir mal geglaubt, wir würden eines Tages wieder überflüssig sein. Und das Gegenteil ist der Fall, dass man in diesem reichen Land noch solche Sachen machen muss. Und das Ende ist nicht abzusehen. Das ist schlimm.“

Eine recht junge Entwicklung, die innerhalb der Tafeln zu beobachten ist, spricht für ihren verstärkten Fokus auf langfristige Maßnahmen. Mittlerweile bieten 47 Prozent aller Tafeln Beratung und Weiterbildung an, 40 Prozent bieten spezielle Unterstützung für Kinder und Jugendliche an, wie Hausaufgabenbetreuung, Kochkurse und Ferienfreizeiten. 96 Prozent aller Tafeln unterstützen Geflüchtete mit Lebensmitteln, teilweise auch Integrations- und Sprachkursen. 2015 wurde die 100-prozentige Tochter der deutschen Tafeln, die Tafel Akademie gegründet, die Seminare, Konferenzen und viele andere Projekte anbietet. Bildung ist bewiesenermaßen eine der effektivsten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Armut.

Wer sich seine eigene Meinung der Tafeln bilden möchte, tut das am besten vor Ort, zum Beispiel bei der Tafel Darmstadt. Den Tafelfinder und viele weitere Informationen gibt es beim Dachverband der Tafel.

Tafel Darmstadt

Bismarckstraße 100
64293 Darmstadt
06151 898289
tafel-da@gmx.de
Webseite

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